Die Puppe

Die Puppe Lesezeit: ca. 4 Minuten Natürlich habe ich mir, wie jedes Jahr, vorgenommen, nicht mehr auf den letzten Drücker in die überfüllte Stadt zu fahren, um für meine Familie die Weihnachtsgeschenke zu kaufen.
Aber wie jedes Jahr blieb es auch heuer beim Vorsatz und nun, vier Tage vor Heiligabend, zwängte ich mich durch die mit Glühwein- und Lebkuchen-Duft erfüllte Innenstadt, in der sich die Kaufgeplagten im Nieselregen drängten. Stress lass nach, die eher schwärzlichen Schneereste des Niederschlages der Vorwoche waren auch nicht dazu getan, meine Weihnachtsstimmung zu heben.

Manchmal wünschte ich, Weihnachten einfach verschlafen zu können, aber die familiären Pflichten lassen jährlich grüßen.
Warum ich dann im größten Kaufhaus des Ortes in die Spielwarenabteilung gegangen bin, weiß ich nicht mehr. Zumal unsere Kinder aus dem Spielzeug-Alter längst herausgewachsen sind. Und doch war ich schnell umfangen von dem erwartungsvollen und freudigen Leuchten, das sich in vielen Kinderaugen in der weihnachtlich dekorierten Spielzeugwelt spiegelte.
Nur ein vielleicht sechsjähriger Junge, der eine neue Puppe gedankenverloren betrachtete, machte einen offensichtlich sehr traurigen Eindruck. Ich fragte mich, für wen er wohl diese Puppe aussuchte. In diesem Moment drehte sich der kleine Junge zu einer älteren Dame um und fragte: "Oma, bist du sicher, dass ich nicht genug Geld habe?" Die ältere Dame erwiderte: "Mein lieber Sebastian, du weißt doch ganz genau, dass dein Geld nicht ausreicht, um diese teure Puppe zu kaufen. Such dir etwas Billigeres aus."
Danach bat sie ihn, in der Spielzeugabteilung zu warten, bis sie ihre restlichen Einkäufe erledigt hätte. Sebastian hatte noch immer die Puppe gegen seine Brust gepresst. Ich ging zu ihm und fragte ihn, für wen er denn die hübsche Puppe ausgesucht hätte. "Es ist die Puppe, die sich meine Schwester zu Weihnachten gewünscht hat. Sie war überzeugt, dass der Weihnachtsmann ihr diese Puppe bringen würde." Ich versicherte ihm, dass der Weihnachtsmann bestimmt weiß, was sich seine Schwester zu Weihnachten wünscht. Und dass er sich darüber keine großen Sorgen machen sollte. Doch Sebastian antwortete ziemlich hoffnungslos: "Der Weihnachtsmann kann ihr die Puppe nicht dorthin bringen, wo sie sich befindet. Ich muss die Puppe meiner Mutter geben und sie kann sie mitnehmen, wenn sie geht." Seine Augen waren Tränen erfüllt, als er das sagte. "Meine Schwester ist schon im Himmel. Mein Vater sagt, dass meine Mutter auch bald in den Himmel kommt. Deswegen dachte ich mir, dass sie die Puppe für meine Schwester mitnehmen kann."
Als ich dem Jungen zuhörte, habe ich meinen lächerlichen Weihnachtsstress gänzlich vergessen.
Sebastian fuhr fort: "Ich sagte meinem Vater, er soll meiner Mutter ausrichten, dass sie noch warten soll, um in den Himmel zu gehen, bis ich vom heutigen

Einkauf zurück bin." Dann zeigte mir der Junge ein Foto von sich, auf dem er ein unbekümmertes, fröhliches Gesicht hatte. "Ich möchte, dass meine Mutter dieses Bild mitnimmt, damit sie mich nicht vergisst. Ich liebe meine Mutter sehr und ich möchte, dass sie bei uns bleibt. Doch mein Vater sagt, dass sie zu meiner kleinen Schwester gehen muss." Wieder schaute er gedankenverloren die Puppe an.
Ich sagte zu dem Jungen, er solle doch sein Geld nochmals nachzählen. Es könnte sein, dass er doch genügend hätte, um die Puppe zu kaufen. Ich half ihm mit dem Zählen und steckte seinem Geld einen 20 Euro-Schein bei, ohne dass er dies bemerkte. Nachdem alles sorgfältig gezählt war, war Sebastian selig. "Danke, lieber Gott, dass du mir genug Geld gegeben hast!" Danach schaute er mich an und meinte: "Ich habe nämlich gestern ganz fest gebetet, dass ich genug Geld für diese Puppe für meine Schwester zusammenbekomme. Und ich hoffe, dass es noch für eine weiße Rose für meine Mutter reicht. Meine Mutter liebt weiße Rosen."
Einige Minuten später kam seine Oma zurück und ich verabschiedete mich von Sebastian. Ich erledigte meine Einkäufe mit einer ganz anderen Einstellung als noch an diesem tristen Vormittag. Ich konnte den kleinen Jungen nicht vergessen.
Auf der Heimfahrt erinnerte ich mich an einen Zeitungsartikel, den ich vorgestern gelesen hatte. Er handelte von einem Autounfall auf unserer Umgehungsstraße.
Blitzeis, wie es in dieser Jahreszeit gelegentlich einsetzt.
Ein Fahrzeug mit einer jungen Frau und einem kleinen Mädchen wurde frontal gerammt. Das kleine Mädchen ist noch am Unfallort gestorben und die Mutter wurde mit kritischem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert. Die Frau lag seither im Koma. War das die Familie des kleinen Sebastian?
Gestern las ich dann in der Zeitung, dass die Autolenkerin, die letzte Woche diesen schweren Unfall hatte, ebenfalls ihren Verletzungen erlag. Ich konnte nicht umhin: Ich kaufte einen großen Strauß weißer Rosen und ging zur Kirche, in der die Frau in einem Seitenaltar aufgebahrt war. Ich war alleine in der schon für das höchste Christenfest geschmückten Kirche. Die Gesichtszüge der Frau waren ganz entspannt, in ihrer Hand hielt sie eine weiße Rose, die Puppe und das Foto des kleinen Sebastian.
Still und in Demut legte ich meinen Rosenstrauß zu den anderen Blumengebinden und als ich nach Hause ging, dachte ich darüber nach, wie groß die Liebe des kleinen Jungen für seine Schwester und seine Mutter ist.
In einer Sekunde kann sich das Leben so gewaltig ändern, dass nichts mehr ist, wie es einmal war.
Seit diesen Erlebnissen nehme ich Weihnachten wieder sehr bewusst wahr, ein kleiner Junge hat mir dabei geholfen.

Autor: unbekannt

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