Die Entschuldigung

Die Entschuldigung Lesezeit: ca. 3 Minuten Damals in den Semesterferien hatte ich meistens einen Ferienjob, um mir mein Studium zu finanzieren. Mal im Supermarkt, mal auf dem Bau, mal im Büro. In diesem Sommer war es ein ziemlich langweiliger Job im Büro. Aber die Anforderungen waren nicht sehr hoch, und die Bezahlung war in Ordnung. Zudem durften alle Mitarbeiter nach 60 Minuten Arbeit in eine Art Küche gehen, um dort für fünf Minuten Pause zu machen (zugegebenermaßen wurden daraus auch gerne mal zehn).
Und da saß er immer. Mir direkt gegenüber. Immer derselbe Typ, Tag für Tag. Er war auch Student wie ich und jobbte auch nur für einige Wochen hier. Mehr wusste ich nicht über ihn. Heute habe ich längst vergessen, wie er heißt. Aber an sein Gesicht erinnere ich mich noch genau. Ein ovales Gesicht, an der Stirn von schütterem blondem Haar umrahmt, sehr blasser Teint. Am besten erinnere ich mich noch an seine Augen. Sie waren milchig trüb und schienen stets irgendetwas zu missbilligen. Und an den Mund. Auch er war oval und erinnerte mich irgendwie an einen Karpfen. Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll: sein Gesicht sah aus wie das eines Fisches. Und aus irgendeinem Grund nervte es mich, tagein, tagaus in dieses Fischgesicht zu blicken, obwohl der Besitzer dieses Gesichtes mir nie etwas zuleide getan hatte.
Dann waren die Semesterferien um und damit auch mein Ferienjob. Der Herbst kam, die Uni ging wieder los, und an mein Gegenüber mit dem Fischgesicht verschwendete ich keinen Gedanken mehr. Zunächst. Aber dann sah ich ihn plötzlich überall wieder. Von Herbst an bis zum Ende des Jahres bestimmt ein Dutzend Mal. Und ich lebte in einer richtigen Stadt, wo mir die meisten Bekannten nie zufällig über den Weg liefen. Mal in der

Universitätsbibliothek, mal im Supermarkt, mal in der Fußgängerzone, mal auf dem Wochenmarkt. Und jedes Mal rief sein Gesicht wieder das leicht unangenehme Gefühl der Genervtheit hervor, das jetzt noch dadurch verstärkt wurde, dass ich nie genau wusste, ob ich ihn grüßen sollte oder nicht. Man kannte sich, aber mehr auch nicht.
Wenn ich ihn grüße, und er kennt mich gar nicht mehr und grüßt nicht zurück, ist es unangenehm. Grüße ich ihn nicht und er hätte eigentlich einen Gruß erwartet, ist es auch unangenehm, so dachte ich. So oder so war ich jedes Mal genervt, wenn ich ihn wieder einmal traf und dachte bei mir immer sinngemäß so etwas wie "Dieser Idiot wieder" oder "Oh nein, schon wieder dieses Fischmaul".
Und dann sah ich ihn noch einmal am Tag vor Weihnachten. Wie immer musste ich noch auf den letzten Drücker Geschenke besorgen, als ich im Kaufhaus die Rolltreppe bestieg. Wer kam mir da auf seinem Weg nach unten entgegen? Natürlich das Fischmaul. Wieder war ich genervt von seinem Anblick, wieder hoffte ich, dass der Moment schnell vorüber gehen möge. Aber diesmal war es anders. Ich war nicht nur genervt, sondern ich wurde mir meiner Genervtheit zum ersten Mal richtig bewusst. Normalerweise ist man ja einfach genervt und denkt nicht darüber nach, dass man genervt ist. Jetzt dachte ich aber mit völliger Klarheit: "Immer, wenn du diesen Typen siehst, bist du genervt und beleidigst ihn in Gedanken sogar als Idiot oder Fischmaul. Dabei hat er dir nie etwas getan. Wenn hier einer ein Idiot ist, dann niemand sonst außer dir selbst." Und dann habe ich mich bei dem Typen, dessen Namen ich schon damals vergessen hatte, in Gedanken entschuldigt. Das war am Tag vor Weihnachten. Seitdem habe ich ihn nie wiedergesehen.

Autor: weihnachtsgeschichten.net

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