Im Vorübergehen

Im Vorübergehen Lesezeit: ca. 3 Minuten Mit einem Seufzer schob sie den Schreibtischstuhl zurück und stand auf.
Draußen war es dunkel, und auf dem Flur war es still geworden. Anscheinend war sie wieder die letzte in der Abteilung. Gerade als sie ihre Sachen zusammenpacken wollte hatte ihr der Chef wieder etwas auf den Schreibtisch gelegt. „Können Sie das heute Abend noch fertig machen? Ist wichtig.“
Eigentlich hätte sie nein sagen sollen, aber dann hatte sie doch genickt und gehofft, es würde nicht zu viel Zeit kosten. Sie wusste, was er dachte, und im Hinausgehen hatte er es dann ausgesprochen: „Es wartet doch niemand auf Sie heute Abend?“
Darauf hatte sie nicht geantwortet. Nein, es wartete niemand.
Nun war es doch spät geworden. Beim nächsten Mal würde sie nein sagen.
Sie nahm ihren Mantel von der Garderobe, schaltete das Licht aus, schloss die Tür ihres Büros ab und ging.
Der Weg nach Hause führte durch die Innenstadt. Sonst war um diese Zeit nicht mehr viel los, aber jetzt, im Dezember, war Betrieb. Menschen drängten an ihr vorbei, in den Schaufenstern blinkte und glitzerte es. Menschen kauften Geschenke, weil sie jemanden hatten, den sie beschenken konnten. Jemand, der auf sie wartete.
Seine Worte klangen ihr in den Ohren. Es wartet doch niemand auf Sie. Seine Art, immer nur ihr kurz vor Feierabend noch etwas auf den Schreibtisch zu legen, was nach seiner Ansicht dringend erledigt werden musste. Dabei ging es ihn nichts an, ob jemand auf sie wartete oder nicht. Und sie selbst sagte nichts dagegen. So würde das nie aufhören.
Aber jetzt war Feierabend. Nicht mehr an die Arbeit denken. Sie blieb vor einem Schaufenster stehen. Im Schaufenster drehte sich ein großer Weihnachtsbaum, von oben bis unten mit silbernen Kugeln und Schleifen dekoriert, um die eigene Achse und glitzerte kalt. Unter dem

Baum waren Schüsseln aufgebaut, Schalen, Besteck.
Eine Schüssel könnte sie brauchen. Sie betrat das Geschäft. Warme, stickige Luft schlug ihr entgegen. Wo waren die Schüsseln? Da standen nur Regale mit Weihnachtsdekoration. Kitschiges Zeug, Weihnachtsmänner mit roten Mänteln, die mit kleinen Glöckchen läuteten, leuchtende Schneemänner, und von irgendwo klimperte eine Spieluhr.
In der Ecke stand ein Regal mit Engeln, alle aus Plastik, golden und mit etwas Grün überzogen. Es sollte wohl aussehen wie Kupfer, das Grünspan angesetzt hatte.
Einige der grünen Engel standen aufrecht und sangen lautlos mit offenstehenden Mündern. Andere hielten kleine Posaunen in der Hand, Trommeln oder Kerzen, ebenfalls grün. Einige lagen bäuchlings und streckten ihre Füße und Flügel in die Luft.
Wo waren die Schüsseln?
Ein kleiner Engel saß auf der Kante des Regalbretts und sah sie an. Seine kurzen, stämmigen Beinchen baumelten in der Luft, die rundlichen Hände hatte er auf die Knie gestützt und sah mit einem Lächeln zu ihr auf.
Unwillkürlich lächelte sie zurück und ging weiter.
Kurz vor dem Regal mit den Salatschüsseln wandte sie sich um. Die Plastikengel standen und lagen da wie zuvor, taten so, als würden sie singen, trommeln oder Posaune spielen. Und auf der Kante des Regalbretts saß der kleine grüne Engel und lächelte zu ihr hin.
Dann stand sie mit dem Engel in der Hand an der Kasse, trat von einem Bein aufs andere, weil es in der Schlange nicht voran ging, und ärgerte sich, als die Verkäuferin den kleinen Engel in hässliches graues Packpapier wickelte. Endlich war alles gezahlt und erledigt. Vorsichtig steckte sie das Paket in die Tasche ihres Mantels.
Jetzt nahm sie den direkten Weg nach Hause und blieb nirgendwo stehen. Sie schloss die Haustür auf und lief die Treppe hoch, in der Manteltasche schon nach dem Päckchen mit dem Engel tastend.

Autor: Simone Kehrberg

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